Lesehalle
Mit der Gründung der Dresdner Lesehalle 1902/03 durch Lingner wurde erstmals in Dresden eine wissenschaftliche Bibliothek für breite Bevölkerungs-kreise zugänglich. Die damaligen
Volksbibliotheken führten im wesentlichen schöngeistige und allgemeinbildende Literatur in ihrem Bestand.
In einem Vortrag von 1902 vor den Stadtverordneten in Dresden stellte Lingner die Beweggründe zum Aufbau der Lesehalle dar. Dabei knüpfte er an aufklärerisches Gedankengut des 18. Jahrhunderts
an. Genannt sei hier insbesondere der Lehrer Heinrich Stephani (1761 -1850), welcher als ein bedeutender Vertreter der Aufklärungspädagogik gilt. In seinem 1797 erschienenen Buch "Grundriß der
Staatserziehungswissenschaft" setzte er sich u.a. für die Schaffung öffentlicher Bibliotheken ein.
Nach Lingner sollte die Lesehalle "diejenigen Quellen der Bildung und des Wissens [bieten,d.Verf.], aus denen der vorwärtsstrebende Mann ... die Mittel zur Erhöhung seiner Erwerbstätigkeit und
zur Verbesserung seiner Lebenslage schöpfen kann". Besonders dachte Lingner dabei "an die zahllosen ... jungen Leute, die kein wohnliches Heim haben und zumal in der Winterzeit in ihrer engen
Kammer außer einem kalten Lager nur noch vier kahle Wände vor sich sehen". Durch den Mangel an Bildungseinrichtungen gingen dem Staat "Unsummen von Begabungen" verloren, so daß nach Auffassung
Lingners die Einrichtung der Lesehalle im gemeinnützigen Interesse lag.
Zur Realisierung seines Vorhabens gründete Lingner den "Verein Dresdner Lesehalle". Dieser wurde am 5. Februar 1903 ins Vereinsregister eingetragen. Die Satzung des Vereins ist bereits am 22.
Dezember 1902 erlassen worden. Lingner übernahm den Vorsitz des Vereinsvorstandes gemeinsam mit seinem Stellvertreter, Oberbürgermeister Eberhard Leupold. Weitere Vorstandsmitglieder waren
Schloßmann und Flachs.
Durch die Verpflichtung Lingners, mit seinem gesamten Privatvermögen für die Verbindlichkeiten des Vereins zu haften, gelang ihm wahrscheinlich, die finanzielle Mitbeteiligung der Stadt zu
erreichen. Diese stellte aus Mitteln der Güntz - Stiftung
10 000 Mark pro Jahr zur Verfügung. Der Verein beteiligte sich ebenfalls mit 10 000 Mark pro Jahr an den Kosten der Lesehalle. Lingner selbst soll 100 000 Mark investiert haben. Dabei übernahm er
die Hälfte der Einrichtungskosten und kaufte das Gebäude Waisenhausstraße Nr.9. An den laufenden Kosten beteiligte sich Lingner mit 3000 Mark pro Jahr. Um den von Lingner erhobenen Anspruch, die
Lesehalle allen Schichten der Bevölkerung zugänglich zu machen, gerecht zu werden, wurde im Parterre des Gebäudes eine Volkslesehalle zur unentgeldlichen Benutzung eingerichtet. In der ersten
Etage befand sich eine komfortabel eingerichtete Abteilung für zahlendes Publikum, nicht zuletzt, um Einnahmen für die Lesehalle zu erhalten.
Zum Literaturbestand der Bibliothek zählten Fachzeitschriften und Bücher aller Gewerbe, populärwissenschaftliche Literatur sowie Patentschriften. Darüber hinaus sollte zu den Vorzügen der
Lesehalle zählen, daß besondere Rücksicht auf die Damen genommen wurde, die hier alles fanden "was eine Frau interessiert: Modejournale, Werke und Zeitschriften der Kochkunst, der Haushaltung,
der Gesundheitspflege, der weiblichen Arbeiten, kurz alles, was auf die Bedürfnisse und Wünsche des Weibes Bezug hat.". In der Lesehalle wurde ein Schreibzimmer, "in dem gegen eine ganz mäßige
Gebühr Schreibutensilien und Papier zu haben sind", eingerichtet. Als Neuerung sah Lingner den Aufbau einer Handbibliothek und einer Universal - Auskunftsstelle an. Letztere sollte Fragen der
Leser sammeln, um diese zur Beantwortung an "Gelehrte und Fachleute" weiterzuleiten.
Um "einem unausweichbaren Bedürfnis" zu entsprechen, setzte sich Lingner persönlich für die Erlangung einer Konzession für einen "Restaurationsbetrieb einschließlich Bier- und
Spirituosen-Ausschank in Gläsern", ein. Außerdem etablierte der Kunstliebhaber Lingner eine Theaterkasse in der Dresdner Lesehalle.
Die Leitung der Einrichtung übernahm der Bibliothekar Dr. Richard Brunn (1870 - 1928), dem weitere 7 Mitarbeiter unterstellt waren. Im Jahr 1904 zählte die Lesehalle bereits 287 000 Besucher, 350
000 waren es 1913.
Lingners Gemeinsinn bestätigt dessen testamentarische Verfügung, wonach die Lesehalle 10 Jahre lang einen Zuschuß erhalten sollte, wenn "die obere entgeltliche Lesehalle noch zur Volkslesehalle
geschlagen wird".
1919 vereinigte sich die Dresdner Lesehalle mit der Städtischen Zentralbibliothek zur Städtischen Bücherei und Lesehalle, die 1923 ihr neues Domizil in der Theaterstraße fand. Dr. Brunn übernahm
die Gesamtleitung dieser Einrichtung.
Lingner hat mit der Dresdner Lesehalle die erste wissenschaftliche Bibliothek in Dresden geschaffen, die durch die kostenfreie Zugänglichkeit Bildungsmöglichkeiten für alle Bevölkerungsschichten
bot. Hiervon sind spürbare Impulse für die nachfolgende Reorganisation des Dresdner Volksbibliothekswesens ausgegangen.
Dresdner Lesehalle