Schulzahnklinik
Am 1. Oktober 1900 gründete Lingner die "Centralstelle für Zahnhygiene" in der Polierstraße Nr. 24. Nach den Vorstellungen Lingners sollte die Zentralstelle der weiteren Erforschung der
Kariesursachen dienen und prophylaktische als auch therapeutische Maßnahmen zur Kariesbekämpfung aufzeigen. Diese Einrichtung stellte die erste wissenschaftliche Institution auf dem Gebiet der
Zahnheilkunde in Dresden dar.
Als Leiter der Zentralstelle setzte Lingner Dr. Carl Roese (1864 - 1947) ein. Roese wurde am 17. April 1864 in Clingen (Thüringen) geboren, studierte von 1884 bis 1888 in Jena, München und
Heidelberg Medizin und legte nach der Promotion in Heidelberg das ärztliche Staatsexamen ab. Aufgrund einer Mittelohrentzündung während seiner Militärzeit in Jena litt Roese unter zunehmender
Schwerhörigkeit, was ihm zum Wechsel in die Zahnheilkunde veranlaßte. Er studierte 1890/91 in Berlin und Erlangen Zahnheilkunde und legte das zahnärztliche Staatsexamen in Straßburg ab. 1891
habilitierte sich Roese in Freiburg i.Br. und lehrte hier an der Medizinischen Fakultät der Albert - Ludwigs - Universität als erster Privatdozent für Zahnheilkunde. 1896 beendete er die von ihm
selbst als "akademische Tierquälerei" bezeichnete Lehrtätigkeit und übersiedelte nach München. Hier betrieb Roese eine eigene zahnärztliche Praxis und arbeitete an einer "Odontographie des
Zahnsystems der Wirbeltiere", beschäftigte sich mit statistischen Untersuchungen zur Kariesätiologie und führte erstmals 1897 bakteriologische Arbeiten und Untersuchungen zur Wirksamkeit von
Mundwässern durch.
Im gleichen Jahr verhandelte Roese wegen einer von ihm entwickelten Zahnbürste mit Lingner. Aus mangelndem Interesse lehnte Lingner die Produktion dieser Zahnbürste ab.
Am 23. Oktober 1898 erhielt Roese dennoch einen Brief von Lingner in welchem dieser seine Vorstellungen zum Aufbau einer "Centralstelle für Zahn-Gesundheitspflege" darlegte und Roese die Leitung
der Einrichtung anbot. Lingner schrieb : "Ich habe Ihre Arbeiten in der Fachpresse mit Interesse verfolgt. Die Bestrebungen, die in diesen Arbeiten zum Ausdruck kommen passen zu einem Plan, den
ich seit Jahren pflege und zu dessen Verwirklichung ich jetzt schreiten möchte. Dieser Plan ist ein ausserordentlich weitfassender. Ich beabsichtige nämlich nichts weniger als eine
wissenschaftliche Centralstelle für Zahn-Gesundheitspflege zu errichten. Von den Zielen in dem sehr weitgehenden Arbeitsprogramm hebe ich heute nur einige Punkte hervor:
1.) Belehrung der Bevölkerung über Zahngesundheitsfragen.
2.) Untersuchung und Kritik aller bekannten Mittel und Methoden, welche die Zahnverderbnis zu verhüten versprechen.
Hierzu ist nötig die Sammlung:
a) aller Mittel die im Handel erhältlich sind,
b) aller Druckschriften,
c) der gesamten Literatur.
3.) Suchen nach einer (möglichst allen Bevölkerungsschichten zugänglichen) Methode die Zähne gesund zu erhalten.
4.) Statistik über Zahnverderbnis in allen Lebensaltern.
5.) Studium der verschiedenen Ursachen der Zahnverderbnis.
Diese wissenschaftliche Grundlage soll nichts gemein haben mit meinen persönlichen Unternehmungen. Dieselbe soll ohne Rücksicht auf meine Unternehmungen selbständig und unabhängig arbeiten. - Ich
würde ein schönes modernes Laboratorium einrichten und alle Apparaturen, Literatur etc., welche für die Arbeiten nötig sind anschaffen. Für die Einrichtung und Leitung dieser Centralstelle möchte
ich nun eine Persönlichkeit gewinnen, welche nicht nur gründliche Kenntnisse und Fähigkeiten für die projektierten Arbeiten besitzt, sondern auch mit Leib und Seele für die Ziele der
Centralstelle eintritt. Der betreffende Herr müßte also nicht nur bakteriologisch geschult sein, sondern auch einige chemische Kenntnisse besitzen und selbstverständlich zahnheilkundig sein. Eins
möchte ich noch erwähnen: Was den Punkt 3 anbetrifft, so ist es durchaus nicht erforderlich, daß das betreffende Mittel ein chemisches sei. Dasselbe kann ein mechanisches oder ein sonst
beliebiges sein. Auf welchem Wege das Ziel erreicht wird, ist mir ganz gleichgültig. Hauptsache ist, daß es erreicht wird, und das es zum Segen der Menschheit wird. Ich habe schon mit
verschiedenen Herrn über die Sache gesprochen, und verschiedene haben sich auch für geeignet gehalten und bereit erklärt, die Leitung zu übernehmen. Ich habe mich aber bis jetzt noch für
Niemanden entschieden, da ich bei noch keinem alle Eigenschaften und Fähigkeiten, die für die Sache nötig sind, zusammen gefunden habe. Diese Summe von Eigenschaften und Fähigkeiten und Liebe zur
Sache vermute ich nun in Ihnen ..."
Vor der Entscheidung, Roese die Leitung der Zentralstelle zu übertragen, ließ sich Lingner von einer Vielzahl zahnärztlicher Autoritäten beraten.
Vertragsgemäß erhielt Roese von Lingner ein festes Gehalt mit der Auflage, keine Privatpraxis auszuüben. Zu den Mitarbeitern der Zentralstelle gehörten Frau Roese und ab 1902 der aus Schweden
stammende Ingenieur - Chemiker und Ernährungsphysiologe Dr. h. c. Ragnar Berg (1873 - 1956), welcher in der Folgezeit zu einem der führenden Ernährungsforscher wurde. Gemeinsam mit Prof. Martin
Vogel (1887-1947) gab er 1925 die erste Auflage seines Lehrbuches "Grundlagen einer richtigen Ernährung" heraus.
Zur Einrichtung der Zentralstelle zählte ein chemisches Laboratorium, ein statistisches Büro sowie von Anfang an eine zahnärztliche Poliklinik. Die Aufgaben der Zentralstelle bestanden, neben den
in Lingners Brief von 1898 aufgeführten Punkten, in dem Versuch der einheitlichen Organisation des gesamten Gebietes der praktischen Zahnhygiene und in der wissenschaftlichen Argumentation
gegenüber staatlichen und städtischen Behörden zur Schaffung zahnhygienischer Einrichtungen. Beim Aufbau der Einrichtung soll Lingner durch Schloßmann unterstützt worden sein . Ebenso wie
Schloßmann setzte sich Roese für die Muttermilchernährung der Säuglinge ein. Wissenschaftliche Veröffentlichungen Roeses wie "Die Wichtigkeit der Mutterbrust für die körperliche und geistige
Entwicklung des Menschen" lassen eine wissenschaftliche Zusammenarbeit der Zentralstelle mit dem Verein Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt als naheliegend erscheinen. Der in
der Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim angestellte Zahnarzt Max Hille führte für Roese 247 Untersuchungen durch, was ebenfalls für eine wissenschaftliche Zusammenarbeit der beiden Einrichtungen
spricht.
Die bisherigen Untersuchungen zur Kariesätiologie gingen von der chemisch-parasitären Kariestheorie nach Miller aus, wonach lokale, in der Mundhöhle angreifende Faktoren z.B. Bakterien, für die
Entstehung der Erkrankung verantwortlich seien. Diesen Ausgangspunkt betrachtend, könnte Lingner durchaus auf Erkenntnisse für seine Mundwasserproduktion gehofft haben. Roese , zunächst Anhänger
der Millerschen Kariestheorie, versuchte diese durch die Einbeziehung von Umwelt- und Ernährungsfaktoren zu erweitern. Dabei dürfte der Einfluß der sich gerade etablierenden Sozialhygiene eine
nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.
Zum einen betrachtete Roese die Wechselwirkung von Gesamtorganismus und Kauapparat, zum anderen die positiven und negativen Wirkungen von Lebensweise und Umwelt auf den Gesamtorganismus. Dieser
theoretische Ausgangspunkt veranlaßte ihn, die Methodik der statistischen Massenerhebungen für seine Untersuchungen zu wählen. Dabei konzentrierte er sich auf die Untersuchung der Wechselwirkung
zwischen Ernährung und Zahngesundheit. Zu diesem Zwecke entwarf Roese 1902/03 standartisierte Untersuchungsformulare für Schulkinder und Musterungspflichtige. Auf diesen Formularen wurden Fragen
an den zu Untersuchenden und seine Angehörigen sowie an den untersuchenden Zahnarzt gestellt. Besondere Bedeutung maß Roese der Beantwortung der Stillfrage bei. Daneben wurden der Geburtsort,
Alter, Beruf, Gewicht, Größe und anthropologische Daten erfaßt. Vom Zahnarzt mußten die Zahnfarbe, die Zahnstellung, der Schmelz, das Zahnfleisch, der Zahnstein, Beläge und Mißbildungen beurteilt
werden. Zusätzlich war der allgemeine Ernährungszustand einzuschätzen. Einen großen Teil der zahnärztlichen Untersuchungen nahm Roese selbst vor, um vergleichbare Ergebnisse zu erhalten.
Zusätzlich führten die Zahnärzte Dr. Kunstmann aus Dresden und Dr. Wibom aus Stockholm entsprechende Untersuchungen im Auftrag der Zentralstelle durch.
Neben Deutschland bereisten Roese und seine Mitarbeiter Schweden, Dänemark, Holland, Belgien, die Schweiz und Österreich.
Bereits 1902 belief sich das statistische Material auf 70 000 Personen und 1904 auf 91 825. Im Jahr 1906 standen 220 737 ausgewertete Probandenuntersuchungen zur Verfügung, wobei ein derartiger
Untersuchungsumfang erstmalig in der Welt erbracht wurde. Roese konnte auf dieser Grundlage die kariesverhindernde Wirkung von hartem Vollkornbrot, mineralienreichem Trinkwasser, Gemüse und
langen Stillzeiten nachweisen.
Seine wissenschaftlichen Ergebnisse veröffentlichte Roese in über 100 Arbeiten, wovon als die wohl wichtigsten zu nennen sind:
- Zahnverderbnis und Speichelbeschaffenheit (1905)
- Die Verbreitung der Zahnverderbnis in Deutschland und den angrenzenden Ländern (1906)
- Der günstige Einfluß des harten Brotes auf die Gesunderhaltung der Zähne ( 1906)
- Erdsalzarmut und Entartung (1908)
- Die Wichtigkeit der Mutterbrust für die körperliche und geistige Entwicklung des Menschen (1905)
- Zahnverderbnis und Zensur (1904)
- Zahnverderbnis und Militärtauglichkeit (1904)
- Zahnverderbnis und Beruf (1904)
- Die Zähne der Dalarner und Gotländer (1904)
Neben rein wissenschaftlichen Arbeiten setzte sich Roese auch für die Popularisierung der Zahnhygiene ein. So propagierte er in populärwissenschaftlichen Schriften sowohl eine regelmäßige
mechanische Reinigung der Zähne mit einer zweckmäßigen Zahnbürste und kräftiges Nachspülen mit Wasser, als auch diätetische Regeln wie schonende Gemüsezubereitung und die Bevorzugung des
Vollkornbrotes und Mineralwassers. Roeses Broschüre über "Zahn und Mundpflege" wurde bis 1907 in 100 000 Exemplaren aufgelegt. Die Stadt Dresden ließ 1 645 Exemplare an sämtliche Lehrer
städtischer Schulen verteilen. Eine schwedische Übersetzung wurde in einer Auflage von einer Million Exemplaren an sämtliche Vorschulkinder Schwedens verteilt. Im Jahr 1904/05 zog die
Zentralstelle für Zahnhygiene auf die Kaitzer Str. 22 um. Inwieweit Einrichtungen des Vormieters, Freiherr von Beust, übernommen wurden, bleibt offen. Dieser praktizierte hier als amerikanischer
Zahnkünstler und "diplom. American Dentist". Bereits 1906 erfolgte ein erneuter Umzug der Zentralstelle in die Waisenhausstraße 9.
Noch im selben Jahr richtete Lingner innerhalb der Zentralstelle eine Schulzahnklinik ein, die aufgrund langwieriger Verhandlungen mit der Stadt-und Schulbehörde erst am 15. Juli 1907 mit ersten
Untersuchungen an Schülern der 9. Bezirksschule Dresden beginnen konnte. Sie war eine der ersten Schulzahnkliniken in Deutschland. Maßgeblich für die Eröffnung und die kostenlose Behandlung von
Volksschulkindern war die Erkenntnis Roeses, "wie sehr heutzutage noch die Verbreitung der Zahnpflege von den verschiedenartigen Vermögensverhältnissen beeinflußt [wird,d.Verf.]... Bei den armen
Volksschulkindern ist die Anzahl der gefüllten Zähne verschwindend gering, in den höheren Töchterschulen ist sie am größten".
Roese wurde von Lingner als wissenschaftlicher Leiter der Schulzahnklinik eingesetzt. Als erster Assistent fungierte der Zahnarzt Dr. phil. Oder und als Assistenzärzte die Zahnärzte Gebhardt und
Uvis. Für die zahnärztliche Behandlung standen 11 Behandlungsstühle zur Verfügung. Insgesamt konnten im Jahre 1907 1280 Volksschüler der 9. Bezirksschule kostenlos zahnärztlich behandelt werden,
wobei 2617 Füllungen gelegt und 2414 Zähne extrahiert wurden. Das Vorhaben Lingners, für weitere Untersuchungen an Bürgerschulkindern einen geringen finanziellen Beitrag der Eltern zu verlangen,
scheiterte aufgrund eines entsprechenden Beschlußes des Rates der Stadt Dresden. Daraufhin stellte die Schulzahnklinik im November 1907 ihre Tätigkeit ein.
Über die weitere Zusammenarbeit zwischen Lingner und Roese berichtete Greimer folgendes: "Leider verstand es Dr. Röse nicht, sich mit Lingner auf die Dauer in ein erträgliches Verhältnis zu
stellen. Er wechselte sprunghaft mit seinen Ideen, griff bald dieses, bald jenes Thema auf, um es alsbald wieder zu verlassen, kam mit Vorschlägen, die sich nicht verwirklichen ließen, und bei
denen meist auch persönliche Motive mitsprachen, wie bei der Brot-Idee und bei der Mineralwasser-Frage, war enttäuscht, weil Lingner seine Zahnbürste, die ihm nicht gefiel, nicht aufnehmen
wollte, ging wochen- und monatelang auf Reisen, ohne die Verpflichtung anzuerkennen, Lingner über Zweck, Ziele und Dauer der Reisen in Kenntnis zu setzen und darüber zu berichten usw. Ausserdem
war er mit Ausnahme der ersten Jahre kaum zu bewegen, in der Centralstelle, deren Betrieb und Unterhaltung ständig große Kosten verursachte, irgend etwas zu tun, was auch nur entfernt den
geschäftlichen Bestrebungen Lingners hätte von Nutzen sein können. Röse suchte vielmehr die Zentralstelle für Zahn - Hygiene allmählich zu einer Zentralstelle für Ernährungshygiene umzugestalten,
und wandte sich immermehr von den von Lingner gewünschten Untersuchungen über die Ursachen der Zahnkaries und über Mund- und Zahn-Hygiene ab, aus Furcht, von der Zahnärzteschaft der Förderung
geschäftlicher Interessen beschuldigt zu werden. Zunehmend befaßte sich Röse mit anthropologischen und rassenhygienischen Themen in Verbindung mit Ernährungsmedizin. So kam es immer öfter zu
unfreundlichen Auseinandersetzungen, die Lingner fast zur Vezweiflung brachten, und schließlich 1909 zum Bruch. Die Centralstelle für Zahnhygiene wurde aufgelöst, und Röse schied verbittert von
dieser Stelle seiner Wirksamkeit, allerdings nicht, ohne in den folgenden Jahren von Zeit zu Zeit zu versuchen mit Lingner ins Einvernehmen zu kommen und ihn für die Erwerbung einer
Mineral-Quelle, speziel der Herster Röse-Quelle zu interessieren, was dieser aber ablehnte".
Neben dem gestörten Verhältnis zu Roese waren der hohe finanzielle Aufwand zur Unterhaltung der Zentralstelle und die erfolglos gebliebenen Verhandlungen mit den städtischen Behörden wohl
ausschlaggebend für die Schließung der Zentralstelle Ende 1908. Zusätzlich könnte die hohe finanzielle und zeitliche Belastung Lingners in Vorbereitung der I. Internationalen Hygiene -
Ausstellung eine Rolle bei der Auflösung gespielt haben.
Ab 1909 hielt Roese zahnärztliche Privatsprechstunden in der Praxis eines Zahnarztes auf der Waisenhausstraße Nr. 4 ab. Da dies Roese vertraglich von Lingner untersagt war, ist ein Ausscheiden
Roeses aus der Zentralstelle Ende 1908 wahrscheinlich.
Lingner hielt trotz der Schließung der Zentralstelle eine spätere Wiedereröffnung für möglich. Bereits 1910 wandte sich der Rat der Stadt Dresden an Lingner zwecks Ermietung der Räume der
ehemaligen Zentralstelle. Hier sollte die neu geplante städtische Schulzahnklinik eingerichtet werden. Im Jahr 1913 war der Mietvertrag zwischen Lingner und der Stadt Dresden erstellt. Der
Abschluß verzögerte sich jedoch und mit Ausbruch des ersten Weltkrieges mußte das Vorhaben der Stadt eingestellt werden. Die Räume Waisenhausstraße Nr.9, II. Etage, blieben bis zu Lingners Tod
unverändert, so daß er sie testamentarisch, nebst der zahnärztlichen Einrichtung, der Stadt Dresden mietfrei zur Errichtung einer Zahnklinik zur Verfügung stellen konnte. Der Rat der Stadt
Dresden lehnte jedoch das Erbe ab und das Wohnhaus Waisenhausstraße 9 wurde an die Deutsche Bank verkauft. Erst im Jahr 1921 kam es zur Eröffnung einer städtischen Schulzahnklinik, Ecke Polier-
und Josephienstraße.
Zentralstelle für Zahnhygiene