Aufstieg als Unternehmer
Am 3.Oktober 1892 gründete Lingner die Firma „Dresdner Chemisches Laboratorium Lingner“ zur Herstellung chemisch-pharmazeutischer Produkte auf der Freiberger Straße 8.
Bereits am 10. August 1892 hatte Lingner diese Absicht dem Gewerbeamt mitgeteilt und gleichzeitig die Lagerung von 200 Litern Spiritus zur Herstellung eines “Mundspülwassers” erwogen. Es erscheint daher sehr wahrscheinlich, dass Lingners “Einstieg” in die chemisch-pharmazeutische Branche wesentlich von dem Vorhaben zur Herstellung eines Mundwassers beeinflusst war, über die Motive Lingners heißt es 1991 bei Marina Lienert und Günter Heidel: “Der zur autodidaktischen Aneignung von Wissen befähigte Lingner, der mit Ärzten und Naturwissenchaftlern freundschaftlich verkehrte, verfolgte interessiert auch die Fortschritte in der Medizin. Er erkannte die praktische Bedeutung der großartigen Entdeckungen Robert Kochs (1843-1910) und Louis Pasteurs (1822-1895) sowie der von Willoughby Dayton Miller (1853-1907) in den achtziger Jahren aufgestellten chemisch-parasitären Kariestheorie. Das in breiten Bevölkerungsschichten entstehende Bedürfnis nach Schutz vor den “unsichtbaren” Bakterien in Rechnung stellend, ließ er durch einen ...Chemiker... ein antiseptisches Mundwasser entwickeln .... und gründete 1892 das “Dresdner Chemische Laboratorium Lingner”.
Die Urheberschaft des Namens Odol (gr./lat. odous = Zahn / oleum = Öl) für das wohl bekannteste deutsche Mundwasser wird Lingner zugeschrieben. Die Inhaltsstoffe des Odols waren nach A. Neisser 1898: Salol 3,5 Prozent; Alkohol 90,0 Prozent; Aqua dest. 4,0 Prozent; Saccharin. 0,2 Prozent und Ol. menth. piper. -anisi -foenciculi -caryophyllor. -cinnamom. Auch soll die eigenwillige Form der Odolflasche (Gebrauchsmusterschutz Nr. 89 258) Lingners Erfindung sein. Andere Quellen berichten, dass die Odolflasche “vom ersten Bildhauer dieser Zeit” entworfen wurde. Auch eine weniger spektakuläre Entstehungsgeschichte scheint möglich. Allen Chemikern sind Rundkolben mit gebogenem Kolbenhals bekannt. Verkürzt man den Hals des Kolbens und verändert den kugelförmigen Kolbenbauch in Richtung einer flachen Flasche, so entsteht ebenfalls eine Odolflasche. Unbestritten ist jedoch, dass die charakteristische und einmalige Flaschenform wesentlich zum Erfolg von Odol beigetragen hat. Sie wurde in der Folgezeit in mindestens 110 Fällen von Konkurrenten nachgeahmt.
Auch die auf den Odolflaschen verwendeten patentierten Etiketten behielten über Jahrzehnte ihr charakteristisches Aussehen durch den quergestellten Schriftzug “Odol” auf hellblauen Grund bei. Lediglich die Zusatzinformationen wurden mehrfach verändert. Die ersten Odolflaschen sind an einer Fabrikmarke erkennbar. Diese stellt in der rechten oberen Ecke den Planeten Saturn mit dem Buchstaben L auf der Kugel dar.
Die Odolflaschen wurden anfangs in der Glashütte von Münzel & Palme in Röhrsdorf, ab 1895 in der Glashütte Trassel in Ober-Warmensteinach und in Schönthal (Böhmen) sowie ab 1906 in Immenreuth hergestellt. Seit nunmehr einhundert Jahren wird die Odolflasche in nahezu unveränderter Form angeboten.
Der Odol - Flaschenverschluss bestand anfangs aus einer kleinen Zinnkapsel, die mit erwärmter Guttapercha aufgekittet wurde. Lingners Werksmeister Kirschen entwickelte später einen Verschluss aus Metall ohne jede Dichtung, der den Druck von einer Atmosphäre aushielt und aus drei Teilen reinem Nickelblechs bestand. Da Nickel sehr teuer war, mußte das Unterteil des Verschlusses durch Aluminium ersetzt und die Flasche zum Schutz vor Korrosion mit einem aufgeklebten Pergamentplättchen versehen werden. Die Herstellung des Odolverschlusses erfolgte zuerst durch die Firma Gäbler in Radebeul und später in einer eigenen Verschlussabteilung der Lingner-Werke.
Die Odolproduktion begann Lingner mit ca. 20 Mitarbeitern, das Odolantiseptikum bezog er durch die Chemische Fabrik von Heyden A.G. Radebeul. Hier war bis 1898 Dr.Gentsch und bis 1902 Dr.Osborne für die Herstellung des Odolantisepticums verantwortlich. Im Dresdner Chemischen Laboratorium Lingner erfolgte die Mischung des Antiseptikums mit Spiritus und ätherischen Ölen. Zu diesem Zweck lagerte die Firma bereits 1892 ca. 200 Liter Spiritus in den Räumen am Freiberger Platz 8. Die zur Odolherstellung verwendeten Materialien untersuchte der Nahrungsmittel-Chemiker Dr. Hefelmann († 1903) in seinem Untersuchungslaboratorium Schreibergasse 6, später im Hause der Marien-Apotheke an der Kreuzkirche. Dr. Hefelmann beriet Lingner auch zu wissenschaftlichen Fragen und veröffentlichte grundlegende Arbeiten über die antiseptische Wirkungsweise von Odol. So 1894 ”Über die Einwirkung der gebräuchlichsten Mundwässer auf die Zahnsubstanz” und 1899 “Über die Wirkung des Odols im Munde”. Die Massenproduktion des Odols zwang schon 1894 zu einer Verlegung der Fabrikation in das Gebäude Freiberger Platz Nr. 17, wo auch Lingner seine Privatwohnung bezog.
In einer Anzeige an das Gewerbeamt Dresden vom 26. Oktober 1897 teilte Lingner die Verlegung der Produktion vom Freiberger Platz Nr. 17 nach der Nossener Str. 2/4 (vormals Klavierfabrik “Apollo-Ascherberg”) mit. Dieser Standort ermöglichte Lingner, die Fabrikation und Verwaltung nach neuesten Erkenntnissen einzurichten und die Produktion unter anderem mit Hilfe einer 100 PS starken Dampfmaschine erheblich zu erweitern. Lingner beschäftigte nun 40 Arbeiterinnen und 20 Arbeiter zur Herstellung des Odols. Die Lagerhaltung von Spiritus musste nun von bisher 200 auf 1.000 Liter erweitert werden. Im Erdgeschoss der neuen Fabrikationsstelle befand sich eine mechanische Werkstatt und ein großer heller Raum für einen mechanisch angetriebenen Mischkessel, in dem das Odol hergestellt wurde. In Nebenräumen richtete man Lager für Rohmaterialien ein. Im ersten Stock des Gebäudes Nossener Straße 2/4 befand sich seit 1897 das Chemische Laboratorium und die Verschlussfabrikation. Im zweiten Stock wurde die Propaganda-Abteilung und das Privat-Kontor Lingners untergebracht. Das Obergeschoss diente der Fertigstellung der einzelnen Artikel. In einem großen Holzschuppen an der Zwickauer Straße befand sich die Packerei- und Versandabteilung sowie Lager- und Spülräume für die Flaschen. Im ersten Stock war die Personalgarderobe und ein schönes Atelier für Zeichner und Maler untergebracht.
Neben dem Dresdner Chemischen Laboratorium Lingner wurde 1897 auch die Firma Lingner & Kraft zur Herstellung patentierter Gebrauchsartikel vom Freiberger Platz Nr. 17 nach der Nossener Straße 2/4 verlegt. Die Eintragung des neuen Firmensitzes in das Handelsregister erfolgte allerdings erst am 23. Juli 1902. Bis dahin arbeitete die Firma aufgrund einer vorläufigen Zusage des Ministeriums des Innern. Mit dem Jahr 1898 firmierte das Dresdner Chemische Laboratorium als Lingner-Werke, wobei noch längere Zeit beide Bezeichnungen Anwendung fanden.
Der Aufstieg des Odols zu einem führenden Markenprodukt hatte vielfältige Ursachen. Der Absatz eines antiseptischen Mundwassers wurde durch die seinerzeit verbreitete Furcht vor krankmachenden Bakterien gefördert. Die Entdeckungen Kochs vor allem führten zu einer Überbewertung der Gefährlichkeit von Bakterien. Mund und Nase galten als Haupteintrittspforten besonders gefährdet. Das Odol konnte dank der wissenschaftlichen Kompetenz seines Erfinders die Erwartung nach ausreichender antiseptischer Wirkung bei gleichzeitig guter Allgemeinverträglichkeit erfüllen. Die ökonomische Situation in Deutschland Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts ermöglichte Lingner den Aufbau eines gewinnträchtigen Unternehmens. So stand die Monopolisierung der Leichtindustrie in Deutschland noch am Anfang als Lingner bereits begann, eine Odolmassenproduktion zuerst in Dresden, später in ganz Europa und Übersee aufzubauen. Lingners geschäftlicher Erfolg basierte auch zu einem großen Teil auf dem Einsatz der Werbung. Dabei waren der Umfang, aber auch die Art und Weise der Werbung für die damalige Zeit in Deutschland einmalig. Die Leitung der Propagandaabteilung lag in den Händen von Richard Zörner. Neu in der Reklame war die Verbindung der Werbung mit der Gesundheitserziehung und Aufklärung der Bevölkerung. Es gibt eine Reihe von Reklamebildern um die Jahrhundertwende, auf denen die Odolflasche neben einem mahnenden Zeigefinger abgebildet war. Ergänzt wurden diese Abbildungen durch Texte wie: “Bedenke, dass Gesundheit regelmäßige Zahnpflege bedingt”. Es kann behauptet werden, dass die Odol-Werbung durchaus künstlerischen Ansprüchen genügte; so konnten bekannte Künstler wie der Komponist Giacomo Puccini (1858-1924) gewonnen werden, der eine Odol-Ode komponierte. Über die künstlerische Wertigkeit der Odol-Reklame gibt die kulturhistorische Dissertation von H. Väth-Hinz umfassende Auskunft.
1902 wurde das Dresdner Chemische Laboratorium Lingner um eine selbständige Desinfektionsabteilung erweitert. In diesem Betriebsteil erfolgte die Produktion von Desinfektionsapparaten und Desinfektionsmitteln. Aus der Abteilung gingen etwa 1905 die Deutsche Desinfektions-Centrale GmbH Berlin und die Österreichische Desinfektions-Centrale Bodenbach hervor. Lingner war in diesen Unternehmen als Aufsichtsratsvorsitzender tätig. Die beiden Unternehmen firmierten spätestens seit 1916 unter dem Namen Deutsche Desinfektionszentrale GmbH Berlin-Dresden-Wien.
In den Lingner-Werken wurde die Produktion um Irex-Zahnpulver (Calziumcarbonat, 1901 von C. Roese entwickelt) und Forman-Schnupfenwatte (1901) sowie Pixavon-Haarwaschseife (Nadelholzteerpräparate, 1903) erweitert.
1904/05 entwickelte sich aus der Bakteriologischen Abteilung des Dresdner Chemischen Laboratorium Lingner ein Bakteriologisches Institut auf der Kaitzer Straße 22, dessen Leitung Dr. Ludwig Lange übernahm. Aus diesem Institut ging 1911 das Sächsische Serumwerk und Institut für Bakteriotherapie hervor.
Ebenfalls 1905 wird das Dresdner Chemische Laboratorium Lingner um das Fabrikationsgebäude Eisenstuckstraße 2 (Vorbesitzer war der Chemiker A. Dölitzsch) erweitert [143]. Hier wurde ab 1906 “Kavon”, eine Kali-Seife, hergestellt, diese Produktionsabteilung nannte man deshalb auch Kavon-Werke. Weiter gehörten die Pittylen- und Pitralseifen sowie Pixavon zum Herstellungsprogramm.
Ständig steigende Produktionszahlen machten 1906 eine Erweiterung der Räumlichkeiten auf der Nossener Straße erforderlich. Das vorhandene Gebäude wurde durch einen Seitenflügel erweitert und auf der Zwickauer Straße konnte ein neues Hauptgebäude errichtet werden. Im ersten, zweiten und dritten Stock des Hauptgebäudes befanden sich große Fabrikationssäle, im Dachgeschoss die Garderobenräume für das weibliche Personal und im Keller Lager-, Kühl- und Fabrikationsräume. Der Nordbau an der Nossener Straße hatte im Parterre Lagerräume, den Mischraum und die Mechanische Werkstatt, im ersten Stock das Laboratorium und die Verschlußfabrikation, im zweiten Stock das Privatkontor, einige Empfangsräume, die kaufmännische und die Reklameabteilung und im dritten Stock große Säle zur Konfektionierung der Waren.
Das Laboratorium des Nordbaues diente ab 1906 der Rektifikation von Rohölen wie Pfefferminz-, Anis-, Nelken- und Lavendelöl. Die zu diesem Zweck eingerichtete Abteilung verschaffte den Lingner-Werken eine gewisse Unabhängigkeit von teuren Importen. Als Leiter der Abteilung wurde Dr. Friedrich Müller (vormals Assistent bei Prof. Wallach in Göttingen) eingesetzt. Hier wurde auch “Odol-mild” entwickelt. Durch die Verwendung terpenfreier Öle und durch einen reduzierten Gehalt an Antiseptikum sollte eine erhöhte Hautverträglichkeit erzielt werden. Im Südbau an der Nossener Straße befanden sich im Keller Lagerräume, die Kaffeeküche und die Baderäume für das Personal, im Parterre der Versand und im ersten, zweiten und dritten Stock Fabrikationsräume. Die Bakteriologische Abteilung mit der Pyocyanase-Fabrikation wurde ebenfalls im dritten Stock untergebracht.
Die große Nachfrage nach dem Odol-Mundwasser ermöglichte den Aufbau von Zweigniederlassungen der Lingner-Werke im Ausland. In Österreich wurde Odol von 1894 bis 1904 in Köglitz im “Beherschen Hause” produziert. Durch Kauf einer ehemaligen Fahrradfabrik verlegte Lingner die Produktion 1904 nach Bodenbach. In England gründete er 1902 die Odol-Chemical-Works London und in der Schweiz die Extraktion AG Basel. Bereits 1907 existierten weitere Niederlassungen in Wien, Paris, Antwerpen, Amsterdam und Warschau. In der Folge kamen noch Fabrikationsstellen in Finnland, Schweden, Rußland, Polen, Rumänien, Ungarn, Holland, Italien, Spanien, Portugal, Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko hinzu. Weiterhin verfügten die Lingner-Werke über eine Glashütte in Brand-Erbisdorf und in Bodenbach.
Im Jahr 1911 erfolgte die Umwandlung des Dresdner Chemischen Laboratoriums Lingner in eine GmbH. Noch im gleichen Jahr wurde daraus die Lingner-Werke A.G. Dresden, der Eintrag in das Handelsregister erfolgte am 3. Januar 1912. Lingner trug als Aufsichtsratsvorsitzender weiterhin Verantwortung für das Unternehmen.
Im Jahr 1906 übernahmen die Lingner-Werke von der Deutschen Roborin-Werke GmbH Berlin die Patente zur Herstellung nichthygroskopischer, in Wasser unlöslicher Blut-Albumin-Präparate. Unter dem Handelsnamen Roberin fanden die Präparate in der Humanmedizin Verwendung, unter anderem bei Blutarmut, Herzschwäche und in der Rekonvaleszenz. Als Haferersatz für Militärpferde erlangte Roberin Bedeutung im ersten Weltkrieg. Die Produktion erfolgte anfangs noch in Berlin und wurde später in ein Futtermittelwerk bei Meißen verlegt.
Mit Ausbruch des ersten Weltkrieges veränderte sich durch den Wegfall der Auslandsgeschäfte und Rationierung von Spiritus für die Zivilproduktion die wirtschaftliche Situation für die Lingner-Werke. Die Produktion wurde entsprechend den Anforderungen des Krieges umgestellt und neue Produktionsschwerpunkte gesetzt: So gewann die Herstellung von Kali-Seife an Bedeutung, die bei der Militärtuchproduktion Verwendung fand. Als Haferersatz für Militärpferde stellten die Lingner-Werke Robos-Pferdekraftfutter zur Verfügung; zur Kriegsproduktion gehörten auch ein Armeefeldkocher und die Odol-Metall-Feld-Dose im Feldpostbrief.