Letztes Lebensjahr
Wenn Lingner auch einen “großen Widerwillen gegen Parteipolitik hatte”, war er doch an politischen Themen interessiert. Er erkannte bereits 1908 in seiner Schrift “Betrachtungen über die
Säuglingsfrage” die Bestrebungen der führenden Industriestaaten nach Weltherrschaft. Insbesondere stellte Lingner die Vereinigten Staaten von Amerika als Gefahr für Europa dar. “Könnten die
geldlüsteren Amerikaner nicht einmal auf die Idee kommen sich das alte, immer noch reiche Europa tributär zu machen, oder amerikanisch ausgedrückt, ein Riesengeschäft zu machen, ein Geschäft, wie
es in der Weltgeschichte noch nicht da war?”. Dass Lingner die Amerikaner als den potentiellen Gegner Europas ansah, hatte wohl zwei Gründe: Er selbst spricht von den “von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
überwältigender werdenden [wirtschaftlichen] Machtmitteln” der Amerikaner. Andererseits verloren Europäische Staaten ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluss in Amerika durch militärische
Niederlagen gegen die USA. 1867 mussten England, Frankreich und Spanien Mexiko verlassen und 1898 verlor Spanien die Insel Cuba. Lingner befürchtete in seiner Veröffentlichung von 1908, dass sich
die Auseinandersetzungen um Vorherrschaft “nach alter bewährter Methode, mit Blut und Eisen, vollziehen [werde]”... es sei denn, es “wird einmal ein genialer Staatsmann ... die europäischen
Nationen zu einer wirtschaftlichen und politischen Machtmasse zusammenschweißen, – vielleicht auf Grund eines neuartigen Staatssystems, das den Nationen wirtschaftliche und weltpolitische
Vorteile verschafft, – zu einem ‘Vereinigten Europa’, das die Leitung der Weltgeschichte – zum Heile der ganzen Menschheit – zu behaupten vermöchte?”. Diese Gedanken formulierte Lingner zu einer
Zeit, da in Europa Kriege geführt wurden und der erste Weltkrieg sich anbahnte. Um so vorausschauender und kühner erscheinen daher heute seine Aussagen. Dass Lingner nicht nur über Europa sprach,
zeigte seine Mitarbeit im Komitee zur Förderung der deutsch-französischen Annäherung 1908. Ein weiteres politisches Engagement könnte man in Lingners Mitgliedschaft in der Ortsgruppe Dresden des
nationalistischen Alldeutschen Verbandes sehen. Möglicherweise suchte der Pragmatiker Lingner auch lediglich Kontakte zum Vorsitzenden der Ortsgruppe, Prof.Dr.Hopf. Dieser war gleichzeitig
Vorstandsmitglied im Deutschen Verein für Volkshygiene. Dieser Verein unterstützte Lingner bei den Vorbereitungen zur I.Internattionale Hygiene-Ausstellung 1911. Im Jahr 1911 trat Lingner aus dem
Alldeutschen Verband aus, vorausgegangen war eine Auseinandersetzung mit Prof.Dr.Hopf. Dieser hatte kritisiert, dass in “deutschen Vierteln” in Prag Werbeplakate für die I.Internationale
Hygiene-Ausstellung lediglich in tschechischer Sprache plakatiert wurden, darin sah er eine grobe Verletzung deutsch - nationaler Interessen.
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges veranlasste den Kaufmann erneut, zu politischen Fragen Stellung zu nehmen. Auch unterstützte er konkrete Vorschläge zur Kriegsführung. Durch Lingners
Vermittlung unterbreitete ein Erfinder 1915 dem preußischen Kriegsministerium Pläne zur Herstellung von Tanks. Dabei handelte es sich um die Vorläufer der heutigen Panzer. “Hohnlachend wurde die
Sache abgelehnt. Später besiegten uns unsere Gegner mit Tanks (z.B.1917 Schlacht bei Cambrai und 1918 an der Ancre,d.Verf.).”
Im Oktober 1915 gründete Lingner das Politisch-wissenschaftliche Archiv in Berlin, Voßstraße 11. Otto Neustätter (1870-1943), Beauftragter Lingners beim Aufbau des Archives und Gustav
Stresemann (1878-1929), Abgeordneter des Reichstages und ein Freund Lingners, berichteten über Lingners Beweggründe zum Aufbau dieses Archives. Demnach erschütterte der Ausbruch des
Krieges Lingner zutiefst, wobei er “ungeheuerliche Gefahren” für das Deutsche Reich klar voraussah. Er bemerkte Defizite bei den politisch Verantwortlichen, die Weltlage richtig
einzuschätzen. Auch befürchtete er, dass Deutschland ohne die nötigen Sachkenntnisse den Friedensverhandlungen nicht gewachsen sei. Dies führte Lingner sowohl auf mangelnde Information
über Vorgänge im Ausland als auch auf deren fehlende Bearbeitung und Beurteilung zurück. Dementsprechend sollte das Archiv Informationsmaterial sammeln und auswerten. Während der
Reichskanzler, Theobald von Bethmann-Hollweg (1856-1921), dem Angebot Lingners wohlwollend gegenüberstand, lehnte der Staatssekretär des Reichsschatzamtes, Karl Helfferich (1872-1924),
diese Hilfestellung ab. Dennoch wurde im Oktober 1915 unter Leitung von Neustätter das Politisch-wissenschaftliche Archiv gegründet. Die Finanzierung der Einrichtung erfolgte durch
Lingner. Dem Archiv gehörten siebzehn sprachkundige Referenten an, die jeweils verschiedene Gebiete zu bearbeiten hatten [218]. Die Einstellung geeigneter Mitarbeiter gestaltete sich
schwierig. Seiring schreibt: “Hatte Lingner Mitarbeiter gefunden, so wurden diese sofort zum Heeresdienst eingezogen. Der Einspruch des Reichskanzlers nützte nichts.” Neben Neustätter gehörte
Prof. Georg Maas (1863-1935), Jurist und Oberarchivrat am Reichsmilitärgericht Berlin, der Leitung des Archives an. Zur wissenschaftlichen Auswertung gelangten fast alle großen
Zeitungen des Auslandes sowie Broschüren, Bücher und Korrespondenzen. Neben Neustätter nutzte Lingner die gewonnenen Informationen, um mit führenden Persönlichkeiten von Parlament und
Regierung in Verbindung zu treten. Er verkehrte mit Staatssekretären und hohen Beamten im Auswärtigen Amt, dem Kriegspresseamt und dem Preußischen Innenministerium. In einer Zeitschrift
für einen kleinen Kreis von “Eingeweihten” mit dem Titel “Was wird, wenn?” beabsichtigte Lingner, alle Möglichkeiten politischer und wirtschaftlicher Umgestaltung zu erörtern. Stresemann
lernte die politische Arbeit Lingners schätzen und wollte ihm “den Weg zum deutschen Botschafter, den er zu Recht anstrebte, ebnen”. Inwieweit die Archivgründung und auch der Kontakt zu
Politikern durch seinen Wunsch, Botschafter zu werden, beeinflusst war, ist nicht nachvollziehbar. Zumindest hatte Lingner als Unternehmer alles erreicht und ein Streben nach
zusätzlicher gesellschaftlicher Anerkennung scheint denkbar. Bereits wenige Wochen nach Lingners Tod konnte das Archiv am 17. Juli 1916 durch die Nachlaßverwalter an die zur
Erhaltung dieses Institutes begründete “Nachrichten-Verkehrs-Gesellschaft mbH” veräußert werden. Recherchen über diese Gesellschaft blieben ergebnislos. Später wird die Villa Voßstraße 11
zum „Haus der NSDAP“ und fällt danach dem Bau der Reichskanzlei zum Opfer.
Ein weiterer Plan Lingners, den er bereits seit etwa 1912 hegte, kam nicht mehr zur Ausführung: Der Musikliebhaber Lingner wollte eine Instrumentenwerkstatt gründen und ihr ein
wissenschaftliches Laboratorium für Akustik angliedern. Mit dieser Einrichtung sollten die Gesetzmäßigkeiten des Instrumentenbaus untersucht werden. Gleichzeitig hoffte Lingner, Orgel
und Blasinstrumente weiterzuenwickeln. In dem späteren Gesandten des Deutschen Reiches in Prag - Dr. W. Koch - hatte Lingner bereits einen Kenner der Geschichte des
Musikinstrumentenbaus für dieses Projekt gewonnen.
Über Lingners Tod am 5. Juni 1916 wurden die verschiedensten Spekulationen angestellt. Nach Pressemitteilungen war er an einer Nierenerkrankung gestorben. Georg Seiring schreibt über
Lingners Erkrankung folgendes: “Lingner begann schon Ende 1915 zu kränkeln. Die furchtbare Leidenszeit eines Mannes fing an, der seine beste Manneskraft eingesetzt hatte für die Gesundheit
anderer Menschen. Langsam, schleichend nahm die Krankheit bösartigen Charakter an. Eine Operation wurde vorbereitet. In diesen Tagen (8 Tage vor Abfahrt zur Operation nach Berlin, d.Verf.) hatte
Lingner sein Testament geschaffen. Er vergaß nicht den Letzten, der ihm gedient, keinen seiner Freunde. ... Als ich Lingner, der nach Berlin zur Operation fuhr, zur Bahn begleitete, und von ihm
Abschied nahm, da habe ich ihm in die Hand gelobt, sein Lebenswerk in seinem Sinne weiterzuführen. Da habe ich das erstemal den starken Mann mit Tränen in den Augen gesehen.” Tatsächlich
erkrankte Lingner zunächst an einer gutartigen Veränderung der Zunge und des Mundes, die man als Raucherkeratose diagnostizierte. Obwohl bekannt war, dass derartige Erkrankungen bösartig
werden können, entschied sich Lingner letztendlich gegen eine geplante Operation und ließ eine Radiumbestrahlung durchführen. Warum sich Lingner selbst dem Rat Neissers zu einer
rechtzeitigen Operation verschloss, bleibt unklar. Mit großer Wahrscheinlichkeit kam es durch die Radiumbestrahlung zur Umwandlung der gutartigen Erkrankung in Zungenkrebs. Eine im Mai
1916 in der Chirurgischen Universitätsklinik Berlin durchgeführte Probeentnahme von Gewebe erbrachte die Bestätigung dieser Diagnose.
Der letzte Brief Lingners an Julia Serda berichtet darüber und sei hier wiedergegeben.
“Vielen Dank für die Blumen und die lieben Worte. Ein Besuch hätte mir zusätzlich zu große Aufregung gebracht, die ich vor der jetzt gefährlichen Operation vermeiden soll. Du hast keine
Vorstellung von dem, was ich in den wenigen Tagen seit Dienstag seelig und psychisch durchgemacht und erlebt habe. Die Angst vor einem kleinen Probeschnitt, eine Sache die in ein paar Minuten
abgemacht sei, dazu noch durch Cerain schmerzlos gemacht – also nichts. Ich könnte danach nach Hause gehen. Anstatt dessen: als der Chirurg das Messer ansetzt, überlegt er tief, wills lieber
nicht spritzen, es könnte unnötige Schwellungen geben also keine Schmerzstillung. Dann sagt einem der Anatom, der das Stück untersuchen soll, er möge um sicher zu gehen ein möglichst großes Stück
ausschneiden. Nun setzt er das Messer an, ich höre es förmlich sich versenken, nach einem Querschnitt – eine klaffende Wunde. Die Wunde ist zu groß geraten, um sie sich zur Heilung selbst zu
überlassen. Sie muss genäht werden. Er setzt zweimal mit schwerer Nähgatze an. Beide Male muss ich leiden. Er lässt die Wunde nun doch offen. Ich muss in der Klinik bleiben. Die Wunde blutet in
einem fort. Trotz aller Tamponierungen. Abends kommt der Professor. Wollen doch lieber nähen. Und nun kommt bei vollem Bewusstsein, ohne jede Narkose oder Schmerzstillung, eine fünfstündige
Operation. Eine anstrengende Nacht. Die Beule wird eingeschnitten. Ich viel einmal beinahe in Ohnmacht. Und alles wegen der “kleinen Probe”. Es war furchtbar. Hatte so etwas noch nie erlebt. Im
übrigen werde ich gut verpflegt. Katholische Schwestern, vernünftige Menschen. Ich leide natürlich unfassbar innerlich, dass mir, der der Arztwelt und der Menschheit so viel geschenkt hat, gerade
im Gesundheitswesen so ein blitzartiger Kummer beschieden werden sollte. So eine einfache Sache. Wäre ich ein armer Mann, wäre ich gesund. Ich bin direkt krank gemacht durch fortwährende
Herzbehandlung. Herzliche Grüße auch an Lotti – da ich sehr wenig schreiben soll, bitte ich Dich, mir entweder eine Abschrift dieses Briefes zu geben oder den Brief selbst.”
Am 26. Mai 1916 ließ sich dann Lingner von einem der berühmtesten Chirurgen Deutschlands, Prof. August Bier (1861-1949), operieren. Die Operation bestand in der Entfernung der Zunge und
der Speicheldrüsen. Am zehnten Tag nach der Operation, am 5. Juni 1916, verstarb Lingner 10.30 Uhr bei einem Verbandswechsel an Herzschlag in der Klinik Burggrafenstraße 1. Seine Leiche
wurde von Berlin nach Dresden überführt und in der Villa Stockhausen im Orgelsaal aufgebahrt. Hier fand am Nachmittag des 8. Juni die Trauerfeier im engsten Freundeskreis statt.
“Orgelspiel und Gesang des Kreuzchores umrahmten die Rede des Geistlichen.” Tags darauf folgte die öffentliche Trauerfeier und vorläufige Beisetzung auf dem Tolkewitzer Johannisfriedhof
im erweiterten Bekanntenkreis. Noch heute ist hier die Grabstätte der Familie Lingner zu besichtigen [5. Bogen, Nr. 28]. Das Grab wurde am 6.April 1911 durch durch Lingners Bruder Oscar
angelegt. Entsprechend Lingners Testament wurde das Grab 1917 für 50000 Mark in ein monumentales Grabmal umgestaltet. Der Architekt Clemens Türke, der Bildhauer Prof.P.Pöppelmann und
J.C.Schilling führten die Arbeiten aus. Die Plastik des Grabmales zeigt eine Mutter mit ihren beiden Kindern. Neben Lingners Mutter wurden in den folgenden Jahren u.a. auch seine Brüder Emil und
Oskar sowie seine Schwester hier beigesetzt. Entsprechend der testamentarischen Verfügung wurden die sterblichen Überreste Lingners am 18. 4.1921 in das von dem Berliner Architekten
Prof. Hans Poelzig (1869-1936) – bekannt auch durch den Bau des Großen Schauspielhauses für Max Reinhardt – errichtete Mausoleum überführt. Die äußere Reliefgestaltung des Mausoleums
übernahm einer der bedeutendsten europäischen Bildhauer des 20. Jahrhunderts, Prof. Georg Kolbe (1877-1947).Das Mausoleum hat einen elliptischen Grundriss, zwischen archiaisierenden
Halbsäulen sind zwölf Reliefplatten eingebunden, welche trauernde Frauengestalten zeigen. Das Mausoleum wird durch eine gestufte Kuppel abgeschlossen. Im Inneren ist das Mausoleum schmucklos und
mit weißen Klinkersteinen verkleidet. Testamentarisch stellte Lingner für die Gestaltung und den Bau seines Mausoleums 150000 Mark zur Verfügung. Mit weiteren 100000 Mark motivierte Lingner die
Gemeinde Loschwitz zur Ausgemeindung seines Grundstückes nach Dresden, da nur so seinerzeit die Anlage einer Begräbnisstätte außerhalb eines Friedhofes realisierbar war. Die Grabstätte
befindet sich noch heute auf der unteren Terrasse des Weinberges der Villa Stockhausen.
Entsprechend der hervorragenden Bedeutung Lingners verpflichtete sich die Stadt Dresden, “dass die Begräbnisstätte nebst Umfriedung sich allzeit in angemessenem und würdigen
baulichem Zustand befindet” . Dieser Verpflichtung kamen die Stadt Dresden beziehungsweise die Nutzer der Villa Stockhausen jahrzehntelang nicht nach. Erst 1992 konnte die
Begräbnisstätte durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in einen ansehnlichen Zustand versetzt werden. In das Lingner-Mausoleum wurde mehrfach eingebrochen, so 1969, 1974 und letztmalig 1977.
Dadurch wurde der Sarkophag unbrauchbar und die im Gelände verstreuten Knochen konnten nur noch in einem Gebeinsack verbracht werden. Um weiteren Plünderungen vorzubeugen verschloss man den
Gebeinsack in einer Zinkkassette und versenkte diese in der Bodenplatte des Mausoleums.