Erfolg und Gemeinnutz
Lingners gemeinnütziges Wirken begann 1897 als Vorstandsmitglied des Vereins “Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt”, zu einer Zeit, da es ihm finanziell möglich war,
beträchtliche Teile seines Vermögens für gemeinnützige Zwecke zu verwenden. Wenn Lingners soziales Wirken vor allem mit mehreren namhaften gemeinnützigen Einrichtungen in Verbindung gebracht
wird, so darf in diesem Zusammenhang das Verhältnis des Großindustriellen zu seinen Arbeitern und Angestellten nicht übersehen werden.
Die in Lingners Unternehmen beschäftigten Arbeiter hatten Anspruch auf Ferien und Urlaubsentschädigung (zehn Tage im Jahr). Darüber hinaus existierte eine betriebseigene Sparkasse, welche die
Spareinlagen der Arbeiter mit fünf Prozent verzinste. Die Werksangehörigen erhielten eine Weihnachtsgratifikation: Arbeiter bis 50 Mark und Angestellte bis zu einem Monatsgehalt. Eine
betriebliche Unterstützungskasse gewährte finanzielle Beihilfen für Werksangehörige bei plötzlich eingetretenen Notfällen. Die Lingner-Werke richteten zehn Wannen und Brausenbäder ein, die
einmal wöchentlich während der Arbeitszeit benutzt werden konnten. Für jeden Arbeiter gab es zweimal täglich einen viertel Liter Milchkaffee, um damit dem Alkoholgenuss während der Pausen
entgegenzuwirken. Des weiteren existierte im Dresdner Chemischen Laboratorium seit 1903 ein Kantinenbetrieb zum Verkauf von Speisen und Getränken zum Selbstkostenpreis. Diese Betriebskantine
muss 1903 in Dresden eine Ausnahme gewesen sein, denn das Gewerbeamt ließ erst eine Inspektion durchführen, um sich über den Sinn und Zweck der Verkaufsstelle zu informieren. In einer
Stellungnahme des Stadtbezirksinspektors heißt es hierzu: “Die Firma will mit der Einrichtung bezwecken, dass Arbeiter jederzeit billige, gute und frische Speisen bekommen und ihre
Pausen nicht mit dem Einholen solcher verlaufen müssen”. Mit der Einführung von Pausengymnastik um 1900 betraten die Lingner-Werke ebenfalls Neuland. Vermutlich regte Hueppe Lingner
dazu an. Im Dresdner Journal vom 17.6.1905 wurde von einem Sommerfest der Belegschaft der Lingner-Werke berichtet. Mit einem gemieteten Dampfschiff fuhr man bis nach Alt-Tolkewitz und kehrte in
dem bekannten Ausflugslokal Donaths Neue Welt ein. Als Höhepunkt der Feier überreichte Lingner 50000,- Mark für den bereits bestehenden Wohlfahrtsfond der Belegschaft.
Was bewog nun aber den Kaufmann Lingner, zum Förderer der hygienischen Volksbelehrung, des Desinfektionswesens und der Säuglingspflege zu werden? Lingner beantwortete diese Frage in
seiner Veröffentlichung “Einige Leitgedanken zu der Sonderausstellung Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung”, erschienen 1903 in Dresden: “Mich selbst hat ein Zufall auf das Gebiet
der Sozialhygiene geführt. Meine geschäftlichen Unternehmungen machten es vor mehreren Jahren notwendig, mich eingehend mit dem in voller Entwicklung befindlichen
Desinfektionswesen zu beschäftigen, und so kam ich zu dem Studium der sozialhygienischen Literatur. Das Gebiet hat mich dermaßen begeistert, dass ich zu dem Entschluss gelangt bin, mich
in jeder nur möglichen Weise auf demselben zu betätigen und andere Bestrebungen, die dieser herrlichen Idee zweckmäßig dienen, fördern zu helfen.” Die von Lingner angesprochenen
“geschäftlichen Unternehmungen” begannen 1897 mit der Konstruktion des “Lingnerschen-Desinfektionsapparates”. Das für diesen Apparat verwendete tiefenwirksame
Desinfektionsmittel Glykoformal entwickelte Lingner gemeinsam mit dem Kinderarzt Dr. Arthur Schloßmann (1867-1932) und Prof. Reinhold Freiherr von Walther (1866-1941), erster Assistent am
organisch-chemischen Laboratorium der Technischen Hochschule.
Die frühzeitige Zusammenarbeit mit Schloßmann kann man als einen entscheidenden Ausgangspunkt für Lingners späteren Einsatz im Bereich der hygienischen Volksbelehrung sehen. Nicht zuletzt gilt
Schloßmann als einer der Mitbegründer der bürgerlichen Sozialhygiene. Er berichtet von einem „engen und regelmäßigen Gedankenaustausch“ mit Lingner zu einer Zeit, da dieser noch sein
Geschäft auf dem Freiberger Platz betrieb. Über ein wichtiges Treffen mit Lingner schreibt Schloßmann folgendes: „Ich erinnere mich eines Abends, an dem wir spät im Cafe König zusammensaßen –
unser gemeinsamer Freund Galewsky hatte sich uns zugesellt – und uns über die Pflichten unterhielten, die großer Besitz demjenigen auferlegen, der in der heutigen Zeit durch Tüchtigkeit und Glück
in die Höhe kommt. Für manches, was Lingner später geschaffen hat, ist in dieser Nacht der Samen gelegt worden.“. In der Folgezeit arbeitete Schloßmann an fast allen von Lingner
geschaffenen gemeinnützigen Einrichtungen mit. Lingner und Schloßmann waren gemeinsam Mitglieder im Deutschen Verein für Volkshygiene, welcher von Lingner als der “kraftvollste
Bahnbrecher der Sozialhygiene” bezeichnet wurde. Die Gründung des Vereins erfolgte 1899 auf Anregung des praktischen Arztes K. Beerwald in Berlin. Den Vorsitz führten Dr. Bödiker,
Prof. Dr. E. v. Leyden, Graf Douglas und Prof. Max Rubner. Zu den Zielen des Vereins gehörten die Verbreitung der persönlichen Gesundheitspflege sowie die Aufklärung über eine
gesundheitsgemäße Lebensweise und Hygiene, um damit die Volksgesundheit zu heben. Zu diesem Zweck organisierte der Verein öffentliche, allgemeinverständliche Vorträge und
brachte populäre Schriften wie “Blätter für Volksgesundheitspflege” (Berlin, seit 1902) und “Veröffentlichungen des Deutschen Vereins für Volksgesundheitspflege” (München, seit
1902) heraus. Gleichfalls unterstützte der Verein praktische Maßnahmen wie Volksbrausebäder und die Beschaffung einwandfreier Säuglingsmilch für die ärmeren Klassen. Die Ortsgruppe
Dresden des Deutschen Vereins für Volkshygiene förderte Lingners gemeinnütziges Wirken, so zum Beispiel die Ausstellung “Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung” 1903 und die
I.Internationale Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden. Ein weiterer Hygieniker, Prof. Friedrich Hueppe, stand zumindest als Referent dem Verein zur Verfügung. Er propagierte den besonderen Wert
von Leibesübungen. Möglicherweise war er es, der Lingner zur Einführung der Pausengymnastik in den Lingner-Werken veranlasste.
Daß Lingners gesundheitspropagandistisches Wirken nicht unwesentlich durch die sich eben emanzipierende bürgerliche Sozialhygiene beeinflusst worden ist, lässt sich nach G. Heidel vor
allem aus Lingners 1904 erschienener Schrift “Einige Leitgedanken zu der Sonderausstellung Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung” vermuten. Zumindest sei “der medizinische Laie Lingner
... von dem außerordentlich häufig benutzten Begriff Sozialhygiene in einem solchen Maße fasziniert, dass er ihn geradezu als Signatur seines Wirkens verwendet”. Da “Großes auf dem
Gebiet der Sozialhygiene nur dann zu erreichen ist, wenn nicht nur die Gebildeten aller Kreise, sondern auch das Volk freiwillig mitarbeitet” und weil “der Schwerpunkt aller
sozialhygienischer Tätigkeit in der Belehrung der Bevölkerung liegt”, ist nach Lingner “kein Gebiet ... zur Betätigung ... idealen Strebens [Vermögender, Anm. d. Verf.] besser als die
Sozialhygiene” geeignet. Auch während der Vorbereitungen zur Internationalen Hygiene Ausstellung durch Lingner lassen sich nach Heidel Belege für den Einfluss der Sozialhygiene
finden. In einem 1906 in Dresden gedruckten Programmvorschlag zur Internationalen Hygiene-Ausstellung lässt Lingner “seiner Vorliebe für den Terminus Sozialhygiene freien
Lauf”. Auch wird der Mitbegründer der bürgerlichen Sozialhygiene, Dr. Alfred Grotjahn (1869-1931), in einer Liste von Vorbereitern der Ausstellung geführt, ohne jedoch später an der
Ausstellungsvorbereitung beteiligt gewesen zu sein. Als Gründe hierfür sieht Heidel sowohl die Beziehungen des jüngeren Grotjahn zur Sozialdemokratie als auch die absolute Dominanz der
Hygieneordinarien, darunter die des engagierte Grotjahn- und Sozialhygienegegners Prof. Max Rubner (1854-1932), in den Vorbereitungsgremien der Hygieneausstellung.
Offensichtlich war Lingner von den heftig geführten Attacken gegen die ursprünglich angestrebte sozialhygienische Orientierung der Hygiene-Ausstellung stark beeindruckt, so dass er
in seiner 1912 erschienenen “Denkschrift zur Errichtung eines National-Hygiene-Museums in Dresden” zwar zahlreiche Passagen des erwähnten Programmvorschlages nahezu wortgetreu
übernahm, jedoch den Gebrauch des Begriffes Sozialhygiene streng vermied.