Erste berufliche Jahre
Karl August Lingner begann seine kaufmännische Ausbildung 1877 in Gardelegen. Prof.J.F.Wollf(1871-1935), Herausgeber der “Dresdner Neuesten Nachrichten” und Freund Lingners, berichtete von einer Ausbildung in einem Warenladen. Andere Autoren schrieben von einer Drogistenlehre Lingners.Belege für eine berufliche Qualifikation liegen nicht vor. Sicher ist nur Lingners spätere Mitgliedschaft im “Deutschen Drogisten Verband von 1873 e.V.".
Auch über Lingners erste Arbeitsjahre in Gardelegen, wo er von 1879-1883 in einem Ladengeschäft als “Handlungsgehilfe” angestellt war, fehlen ausführliche Angaben. Es sollen entbehrungsreiche Jahre gewesen sein mit dem Ziel, das Geld für einen Parisaufenthalt zusammen zu sparen. Im Herbst 1883 begab sich Lingner nach Paris, wo er am Konservatorium Musik studiert haben soll. Für eine Aufnahmeprüfung Lingners gibt es keine Hinweise. Das Pariser Konservatorium stand damals unter der Leitung von A.Thomas (1811-1896) und galt als exklusive Ausbildungsstätte. Berühmte Musiker Frankreichs wie M. Ravel (1875-1937), C. Debussy (1862-1918), F. Schmitt (1870-1958) und V. D‘ Indy‘ (1851-1931) erhielten hier ihre Ausbildung. Es scheint unwahrscheinlich, dass ein einfacher “Handlungsgehilfe” Zugang zum Konservatorium hatte, auch enthielten die Schulzeugnisse Lingners keinen Hinweis auf eine außergewöhnliche musikalische Begabung. Seinen Lebensunterhalt verdiente Lingner als Vertreter deutscher Firmen in Paris. Er wohnte in der Rue de la Tour d‘Auvergne. Zu seinem Pariser Freundeskreis zählten Wilhelm Rikkers, der Sohn eines holländischen Bankiers, ein Stettiner Kaufmannssohn namens Lindemann und der Dresdner Karl Lange.
In Paris trat Lingner als Chefredakteur einer Musikzeitschrift auf, an der ein gewisser Horaz Herzog als “Idealist, Illusionist, Pianist und Komponist” mitarbeitete. Erhalten geblieben ist die handschriftlich verfasste Nummer 3 der Zeitschrift “L‘Ami” vom 25. Januar 1885. Es könnte sich möglicherweise um eine Zeitschrift für Studenten gehandelt haben. Ein Zitat aus dieser Zeitschrift verdeutlicht Lingners Jugendideale: „Nur das nehmen die Reichen mit ins Grab, was sie den Armen gegeben haben.“ Eine schwere Krankheit soll Lingner 1885 bewogen haben, nach Deutschland zurück zukehren. Die Natur der Erkrankung bleibt unklar, wenn auch die Beschreibung einer “schweren Er schöpfungskrankheit” auf Überarbeitung, Überforderung bzw. Mittellosigkeit schließen lässt. Lingner zog die kaufmännische Laufbahn der eines Künstlers vor, nach dem er die Unwägbarkeiten letzterer selbst kennen gelernt hatte. In der Auseinandersetzung mit dieser Krankheit und in der sich an schließenden Genesungsphase soll Lingner erstmalig Gedanken über “Vorbeugungsmittel gegen das Entstehen von Krankheiten” entwickelt haben. Berichte von Wollf und Seiring wonach Lingner vor seiner Rückkehr nach Deutschland eine Reise nach London unternahm, relativieren die Schwere seiner Erkrankung und es sind andere, unbekannte Gründe für die Rückkehr nach Deutschland zu vermuten. In wie weit Lingner von der 1884 in London veranstalteten Hygieneausstellung Kenntnis genommen hat, bleibt unbekannt.
Von 1885 bis 1888 arbeitete Lingner als “Korrespondent” in der Nähmaschinenfabrik Seidel & Naumann in Dresden auf der Hamburger Straße. Hier verfasste er Geschäftsbriefe in deutscher und französischer Sprache, in welchen er für die Nähmaschinen dieser Firma warb. Nach Wollf bediente er sich dabei eines neuen Werbestiles: Waren die bisherigen Reklameschriften durch eine “von den herkömmlichen Redensarten einer von kaufmännischem Aktenstaub bepuderten, langweiligen Liebenswürdigkeit” gekennzeichnet, so bediente sich Lingner einfacher und verständlich gewählter Worte. Lingner vertauschte die “seriöse Geschäftssprache” durch ein “intimes Zwiegespräch” und versuchte seinen Kundinnen nahe zu bringen, “warum gerade die Maschine von Seidel & Naumann [ihnen] sicher viel Mühe ab nehmen [werde] und warum just diese Maschine so dauerhaft sei und so vor teil haft im Gebrauch”. Durch die Tätigkeit bei Seidel & Naumann angeregt, befasste sich Lingner intensiv mit Methoden der Werbung. Dabei soll er auch Erfahrungen aus den Lebenserinnerungen ”amerikanischer Industriekapitäne und Finanzleute” analysiert und berücksichtigt haben. Berichte der zeitgenössischen Presse, wonach Lingner von einer Amerikareise die Kunst der Werbung nach Deutschland gebracht habe, können jedoch aufgrund des vorhandenen Quellenmaterials nicht bestätigt werden.
Am 6. Juli 1888 wurde Lingner als Mitinhaber eines technischen Geschäftes, Wölfnitz Straße 16, beim Gewerbeamt A in Dresden registriert, Gemeinsam mit Georg Wilhelm Kraft (25.12.1855-1929?)gründete er am 13. Juli 1888 die Firma Lingner & Kraft. Diese Firma bestand aus zwei Zimmern in einem Waschhaus auf der Wölfnitz Straße 16 und beschäftigte anfangs drei Arbeiter. Die Gartenlaube wurde von der “Kaufmanns-Ehefrau” Emma-Auguste Bernhardt gemietet. Kraft betrieb vor seiner Zusammenarbeit mit Lingner ein technisches Geschäft auf der Löbtauer Straße 15, wo er auch bis 1888 wohnte [128]. Als Berufsbezeichnungen führte Kraft die Titel Werksführer, Techniker und Ingenieur. Lingner selbst wohnte bis 1887 in der Ferdinandstraße 3 und zog 1888 nach der Wölfnitz Straße 16 um. Über die Finanzierung der Firma äußerte die zeitgenössischen Presse vor allem drei Vermutungen, die jedoch wenig glaubhaft erscheinen: So sollte Lingner von seinem zu künftigen Schwiegervater, einem Zimmermann, 300 Mark geliehen haben, Heiratsabsichten aus dieser Zeit sind von Lingner nicht bekannt. Auch die Annahme, Kraft habe “etliche zehntausend Mark” in die Firma investiert, erscheint bei Krafts vorausgegangener Tätigkeit eher unwahrscheinlich. Auch für eine Kreditaufnahme bei dem Berliner Verleger Rudolf Mosse fehlen ein deutige Hinweise. Die Firma Lingner & Kraft beschäftigte sich mit der Fertigung und dem Verkauf technischer Artikel nach eigenen, von Kraft stammenden Patenten. Zu den auch im eigenen Geschäft verkauften Produkten zählten der “Patent-Wasch-Frottierapparat mit dem Lufakissen (bereits 1884 von Kraft verkauft), der Stiefelknecht “Famos” (seit 1889), ein Dochtputzer für Petroleumlampen (seit 1890), ein biegsames, nicht klecksendes Metalllineal (seit 1891), ein Schreibfederreiniger, eine dem Körper des Menschen angepasste Scheuer- bürste, ein hygienischer Senfborn-Pumpbrunnen (1892) und andere. Der Senfborn-Pumpbrunnen bestand “...aus weißem, mit blauem Zwiebelmuster versehenen Porzellan, mit dem durch Betätigung des Pumpenschwengels Senf auf den Teller gepumpt werden konnte.” Da eine vollständige Abdichtung des Pumpkolbens nicht gelang, war das Produkt letztendlich ein Reinfall. “Der noch vorhandene Vorrat wurde im Hofe vergraben, rechts von der Stelle, wo der Ekonomiser steht, wo gelegentlich, wenn aufgegraben wird, noch einzelne Stücke zum Vorschein kommen.” Neben dem Direktverkauf der Waren existierte bereits 1888 ein Vertriebssystem: für Österreich durch J. Stieber in Wien I, Grünangergasse 20 und für Holland durch E. Rikkers (Lingners Freund aus Paris). In Deutschland wurden “bessere Haushaltungs-, Toiletten-, Badeartikel- u.s.w. Geschäfte” beliefert. In der Folge konnten Firmen in der Schweiz, Italien, Frankreich, Belgien, England und Russland für den Vertrieb der Artikel von Lingner & Kraft interessiert werden.
Im Jahr 1888 bediente sich Lingner erstmalig der Reklame zum Vertrieb von “Gesundheits-Hilfsmitteln”. Als “unentbehrlich für Jedermann” und auf den “Waschtisch jedes Gebildeten” gehörend, warb die Firma Lingner & Kraft für ihren “Patent- Wasch- und Frottierapparat”. Eine der offensichtlich ersten Werbeanzeigen veröffentlichten 1888 die “Lustigen Blätter”. Die dazu gehörenden Bildillustrationen fertigte ein gewisser Reisenbach an.
Aufgrund der Bezeichnung “Patent–Frottierapparat” musste die Firma Lingner & Kraft 1888 wegen der Vortäuschung eines Patentbesitzes 50 Mark Strafe an das Gewerbeamt Dresden zahlen.
Die Firma Lingner & Kraft erweiterte sich 1889 um das Grundstück Bauhofstraße 10. Die Wölfnitz Straße 16 diente nur noch als Kontor. Die Räume Bauhofstraße 10 mietete die Firma Lingner & Kraft von dem Kaufmann Nikolaus Jos. Duchesne.
Im gleichen Jahr verlegte Lingner seinen Wohnsitz auf die Wölfnitz Straße 18 und Krafts neue Adresse wurde An der Ziegelscheune Nr. 10. Ab 1890 befanden sich die Fabrikation und das Kontor auf dem Freiberger Platz Nr. 8, und Lingner zog im gleichen Jahr nach der Reichenbachstraße 5 um. Die Räume auf dem Freiberger Platz Nr. 8 übernahm er von der Firma Harz und Wöllfert. Seinerzeit beschäftigte die Firma Lingner & Kraft bereits 18-20 Personen. Insbesondere der Absatz von Frottier-Apparaten mit dem “Luffa-Kissen” entwickelte sich gut. Der Luffa-Schwamm besteht aus dem gebleichten Gefäßbündelnetz einer in Ägypten und Japan beheimateten Gurkenart. Die Bleichung nahm die Firma Lingner & Kraft selbst vor und es konnte eine “führende Stellung” auf dem “Luffa-Markt” erreicht werden. Im Jahre 1891 wechselte Lingner erneut seinen Wohnsitz, jetzt nach der Reichenbachstraße 7.
Am 29. März 1892 schied Kraft aus dem Unternehmen aus. Über die Gründe des Ausscheidens vermeldete die “Berliner Börsen Zeitung” vom 11. Juni 1916: “Die Firma blühte. Er [Lingner] fühlte sein Glück. Da war es sein erstes, den Sozius, der ihm das Fundament des Aufstieges geliefert hatte, zur Seite zu schieben. Er kaufte ihn unter einem nichtigen Vorwand aus. Er sicherte sich den alleinigen Genuss seiner Zukunft”. Diese Darstellung ließ Lingner als skrupellosen, berechnenden Geschäftsmann erscheinen, was ihm auch später bei sozialen Leistungen unterstellt wurde. Gegen diese Darstellung spricht die von Kraft und dessen Frau anlässlich des Todes von Lingner 1916 geschriebene Trauerkarte mit herzlichen, anteilnehmenden Worten. Mit großer Wahrscheinlichkeit führte die durch Lingner beabsichtigte Umprofilierung der Firma zur Herstellung chemisch pharmazeutischer Produkte zum Ausscheiden Krafts, welcher als Techniker andere Interessen verfolgte.
Produkte der Firma Lingner & Kraft bis 1892