Sächsisches Serumwerk

Es waren vor allem der Botaniker und Pflanzenphysiologe Ferdinand Julius Cohn (1828-1898) und Robert Koch (1843-1910), die die wissenschaftliche Bakteriologie in Deutschland begründeten. Be- schäftigte sich die bakteriologische Forschung in ihrer frühen Ent- wicklungsphase insbesondere mit den Möglichkeiten des Erregern-achweises, so wuchs in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Interesse an spezifischen Bakterien-giften und vom Körper gebildeten Antitoxinen. 1890 konnte der Koch-Schüler und -Mitarbeiter Emil von Behring (1854-1917) durch Immunisierungsversuche an Tieren die Bildung von Antitoxinen belegen. Es gelang ihm in den neunziger Jahren, ein Diphtherieserum (ein Antitoxinkonzentrat gegen Diphtheriebakterien) zu entwickeln und erstmalig diphtheriekranke Kinder erfolgreich zu behandeln. Damit war der Anfang der serumtherapeutischen Ära gemacht, und es entwickelte sich in der Folgezeit die Blutserumtherapie. Lingner war von der Möglichkeit, Bakterien mit ihren “eigenen Waffen” zu bezwingen, begeistert und plante schon frühzeitig die Herstellung von entsprechenden Substanzen. Hueppe berichtete, dass die Einführung des Diphtherieserums durch von Behring (dieser hatte dafür 1901 den Nobelpreis erhalten) Lingner zur Aufnahme der Serumherstellung veranlasste. 1902 erwarb Lingner von dem bekannten Münchner Bakteriologen Prof. Rudolph Emmerich (geb. 1852) das Verfahren zur Herstellung von Pyocyanase. Dieses von Pyocyaneus-Kulturen gebildete bakteriolytische Enzym fand als Heilmittel gegen Diphtherie, Blutvergiftung, Milzbrand, Soor und Genickstarre Verwendung.

1903 begründete Lingner im Dresdner Chemischen Laboratorium Lingner die Bakteriologische Abteilung zur Herstellung von Pyocyanase. Diese Abteilung auf der Nossener Str.2/4 wurde von Dr. L. Lange geleitet. Hier erfolgte auch die Fertigung von Modellen, Moulagen und Bakterienkulturen für die Ausstellung “Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung” 1903 in Dresden. Somit war auch der Vorläufer der späteren Lehrmittelwerkstätten des Deutschen Hygiene-Museums begründet. 1904 wurde die Bakteriologische Abteilung nach der Kaitzer Straße 22, I. Etage, verlegt und in Folge als Bakteriologisches Institut bezeichnet. Das Institut besaß unter anderem technische Einrichtungen zur Herstellung von Pyocyanase. In Kulturkolben erfolgte die Anzüchtung von Pyocyaneus-Kulturen, die das bakteriolytische Enzym bilden. Durch Filtration und Eindampfung im Vakuum wurde die Enzymlösung auf 1/10 ihres Volumens konzentriert. Mittels eines Elektromotors erfolgte die Herstellung der dazu erforderlichen luftleeren Flaschen. Im Juni 1906 verließ Dr. Lange das Institut und erhielt 1907 eine Privat-Dozentur an der Kgl. Sächs. Technischen Hochschule in Dresden. Um 1912 wurde Prof. Lange als Oberregierungsrat an das Reichsgesundheitsamt Berlin berufen. Nach dem Ausscheiden von Lange über- nahm der Apotheker Glaser, ehemaliger Mitarbeiter von Prof. Emmerich, die Leitung des Bakteriologischen Institutes. Neben Glaser waren zwei Chemiker und zwei Diener im Institut beschäftigt. Inwieweit die Pyocyanase als pharmazeutisches Produkt verkauft bzw. in der Kinderklinik mit Säuglingsheim zur Anwendung gelangte, konnte nicht ermittelt werden. Auch fehlen Belege über eine mögliche Zusammenarbeit zwischen dem Bakteriologischen Institut und der Zentralstelle für Zahnhygiene. Letztere Einrichtung befand sich von 1904-1906 im Erdgeschoss der Kaitzer Straße 22. Carl Roese, ihr Leiter, war vor seiner Berufung nach Dresden ebenfalls bei Prof. Emmerich in München bakteriologisch tätig. Das Bakteriologische Institut wurde 1908 in die erweiterte Fabrik auf der Nossener Str.2/4 verlegt. Für die weitere Entwicklung des Bakteriologischen Institutes bis zur Gründung des Sächsischen Serumwerkes waren die sich entwickelnden Kontakte zum Hygiene Institut der Universität Bern und dem Schweizer Serum- und Impfinstitut Bern entscheidend. Über das Zustandekommen dieser Beziehung lassen sich folgende Vermutungen anstellen: Zur Vorbereitung der Ausstellung “Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung” 1903 begründete Lingner ein Ehrenkomitee, in dem unter anderem Prof. Richard Pfeiffer (1858- 1945), der Entdecker des Influenza-Bazillus und Bakteriolysins von Choleravibrionen, mitarbeitete. Über Pfeiffer könnte Lange, der wissenschaft- liche Betreuer der Ausstellung und Leiter der Bakteriologischen Abteilung, Verbindung zum Direktor des Hygiene Institutes der Universität Bern, Prof. Wilhelm Kolle (1868-1935), aufgenommen haben. Professor Pfeiffer arbeitete jahrelang mit Professor Kolle über Grundlagen der Immunität bei Cholera- und Typhusinfektionen zusammen. Auch ein unvermittelter Besuch Lingners am Hygiene Institut der Universität Bern scheint denkbar, da er in Vorbereitung seiner Ausstellung 1903 mehrere Universitätsinstitute besuchte, um sich insbesondere Sammlungen von Bakterienreinkulturen anzusehen.

Prof. Kolle fungierte als Wissenschaftlicher Leiter des 1898 in Bern gegründeten Schweizer Serum- und Impfinstitutes. Ein Protokoll der Aufsichtsratssitzung des Schweizer Serum- und Impfinstitutes vom 9. Januar 1909 beleuchtet die Zusammenarbeit mit Lingner [158]. Demnach vermittelte Prof. Kolle die Kontakte zwischen Lingner und dem Schweizer Institut. Auf Betreiben Kolles wurden seit Oktober 1908 Verhandlungen geführt, die im Januar 1909 zum Abschluss kamen. Danach verpflichtete sich das Schweizer Serum- und Impfinstitut zur Unterstützung beim Aufbau des Sächsischen Serumwerkes und zur Überlassung von Absatzmärkten. Als Leiter des zu gründenden Sächsischen Serumwerkes wurde Privatdozent Dr. Otto Heller eingesetzt. Heller habilitierte sich als Privatdozent und war am Berner Universitäts-Institut für Infektionskrankheiten unter Kolle tätig. Zu seinen Forschungsthemen zählte der Versuch zur Herstellung eines nichtinfektiösen Impfstoffes gegen Tollwut [193]. Prof. Kolle versicherte gegenüber dem Schweizer Serumwerk, die wissenschaftliche Oberleitung in Dresden für mindestens drei Jahre zu führen. Lingner verpflichtete sich zur Zahlung von jährlich zehn Prozent des Reingewinns (Minimum: 8.000 Mark) für zehn Jahre an das Schweizer Serumwerk. Zusätzlich hatte Lingner eine Pauschalabfindung von 50.000 Mark zu zahlen. Davon erhielt Kolle zweimal 6.000 Mark und vom Reingewinnanteil 3.000 Mark pro Tätigkeitsjahr.

Nach Vertragsabschluß wurde Lingner Aufsichtsratsmitglied im Schweizer Serum- und Impfinstitut Bern. Er gewährte dem Schweizer Institut eine Anleihe von 5.000 Franken, Zeitpunkt und Grund sind unbekannt [41]. Im Februar 1909 teilte Lingner dem Ministerium des Innern mit, dass er beabsichtigt, auf der Löbtauer Straße 45 “Einrichtungen für die Fabrikation und den Vertrieb von Heilsera zu treffen”. Zu diesem Zwecke mietete er von der Aktienbierbrauerei Gambrinus entsprechende Gebäude. Unter Hellers Leitung entstanden Räume für die Verwaltung, Laboratorien, Ställe für 30 Pferde zur Serumgewinnung und Kühl-, Aufbewahrungs-, Abfüll- und Verpackungsräume.

In den Jahren 1909 bis 1910 erfolgte der Aufbau des Sächsischen Serumwerkes und Institutes für Bakteriotherapie auf der Löbtauer Str.45. Daneben bemühte sich Lingner die formellen Genehmigungen für die geplante Serumherstellung zu beschaffen. Neben dem Innenministerium, der Kreishauptmannschaft Dresden und der Medizinalpolizei mußte das Gewerbeamt tätig werden.

1910 zeigte Lingner dem Gewerbeamt Dresden die Absicht zur Eröffnung des Sächsischen Serumwerkes und Institutes für Bakteriotherapie an. Mit Schreiben des Gewebeamtes vom 19.Juli 1910 erhält Lingner letztendlich die Erlaubnis “...zur Herstellung und Vertrieb der Heilseris”. Am 17. Oktober 1911 wurde das Sächsische Serumwerk und Institut für Bakteriotherapie als GmbH im Handelsregister beim Amtsgericht Dresden registriert. Das Direktorat wurde mit Otto Heller besetzt und die Herren Bethke und Reichelt zu Geschäftsführern ernannt, auch war Georg Seiring an der Leitung des Unternehmens beteiligt. Lingner hielt als Vorsitzenderer des Aufsichtsrates maßgebliche Gesellschaftsanteile. Erste Erfolge erzielte das Sächsische Serumwerk mit der umfassenden Bereitstellung von Seren und Impfstoffen gegen Cholera und Typhus im ersten Balkankrieg 1912/13. Die dabei erzielten Gewinne ermöglichten die kostspieligen Untersuchungen zur Herstellung eines Karzinomserums für die fermentative Erkennung von Krebserkrankungen. Für diesen Zweck investierte das Serumwerk etwa 100.000 Goldmark. Ab 1912 führte eine bakteriologisch-serologische Untersuchungsstelle im Serumwerk unter anderem die Wassermann ́sche Reaktion zur Syphilisdiagnostik durch.

Der erste Weltkrieg setzte diesen intensiven Forschungen jedoch vorerst ein Ende, da an der Front ein großer Bedarf an Tetanusserum zu decken war. Auch wurden Seren gegen Diphtherie, Ruhr, Cholera, Gasbrand und Strepto- und Pneumokokken sowie Pest benötigt und hergestellt. Seiring beschreibt die Situation wie folgt: “Der Krieg brachte aber wieder andere Aufgaben. Man hatte allgemein mit einer kurzen Kriegsdauer gerechnet und deshalb für eine längere Zeit nicht vorgesorgt. Das Sanitätswesen war am meisten im Rückstand. So fehlte u.a. Tetanus-Serum fast vollständig. Ich übernahm die betriebliche Leitung des Sächsischen Serumwerkes und ließ sofort 200 Pferde impfen, die wir von der Heeresleitung zur Verfügung gestellt bekamen, um tunlichst schnell das wichtige Serum zu beschaffen. Zusätzlich zur eigenen Produktion erwarb das Sächsische Serumwerk im Auftrag der deutschen Heeresverwaltung Seren im Ausland, dabei könnte Lingner seine Beziehungen zum Schweizer Serum- und Impfinstitut genutzt haben. Nach dem ersten Weltkrieg arbeitete das Sächsische Serumwerk vorrangig auf dem Gebiet der Syphilisbekämpfung, der Proteinkörper-Therapie und der Tuberkulosebekämpfung. Nach Lingners Tod wurde entsprechend der testamentarischen Verfügung den Angestellten und Arbeitern des Sächsischen Serumwerkes eine einmalige Geldzuwendung in der Gesamthöhe von etwa 6.700 Mark ausgezahlt. Lingners Gesellschaftsanteile konnten im Februar 1917 mit einem Gewinn von 30.000 Mark verkauft werden. Nach der Umwandlung zur Aktiengesellschaft 1922 wurde im Sinne Lingners ein Vertreter der Landesregierung Sachsens in den Aufsichtsrat delegiert, um die Interessen der Allgemeinheit für die Bekämpfung der Volkskrankheiten zu sichern. Die Beziehungen zum Schweizer Serum- und Impfinstitut blieben durch die Berufung seines Direktors, Paul Gardinaux, in den Aufsichtsrat des Sächsischen Serumwerkes bestehen.

 

Das Sächsische Serumwerk überstand beide Weltkriege, war der größte Impfstoffhersteller in der DDR und firmiert heute als ein Unternehmen des Weltkonzernes GlaxoSmithKline. Der Firmenstandort in Dresden zählt zu den drei größten Grippeimpfstoffherstellern der Welt. Die Mitarbeiter des Unternehmens tragen auch weiterhin Verantwortung für ihr historisches Erbe. So spendeten Sie mehrere Millionen Euro für den Wiederaufbau des Lingnerschlosses in Dresden.

 

Sächsisches Serumwerk Dresden um 1915